J. R. von Salis
Eine Porträtsitzung im Atelier von Walter Sautter ist nicht nur ein Ruhepunkt im geschäftigen Leben; sie ist auch ein Abenteuer, bei dem man viel erfahren kann. Aufmerksamkeit des Modells und Willen zur Zusammenarbeit mit dem Maler sind eine Voraussetzung des Gelingens. Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn ein Künstler hinter seiner Staffelei mit schöpferischer Unruhe tätig ist, mit insistierenden Blicken sein Modell ausfragt: ausfragt nach seinem geheimen Wesen, nach seiner besonderen Gestalt, nach den äusseren und inneren Formelementen, aus denen ein Bildnis - nicht eine Photographie - entsteht. Merkwürdig kam es mir anfangs vor, dass Walter Sautter während seiner Arbeit gern mit seinem Modell spricht. Diese Gespräche waren für mich eine Annehmlichkeit - was waren sie für den Maler? Vermutlich ist es für ihn eine Möglichkeit, den zu porträtierenden Partner gleichsam "auf Draht" zu halten; er soll nicht nur nicht einschlafen, sondern auch nicht verkrampft und steif werden: sein Gesicht soll leben, die Gesichtszüge sollen sich bewegen, indem er an einem Gespräch teilnimmt.
Nun habe ich natürlich im Verlauf dieser intensiven Atelierstunden (die auch nicht eine wohlgemeinte Trinkviertelstunde, von der Hausfrau angeboten, erlaubte) viel von Sautter erfahren. Der Arbeit wie dem Gespräch kam die ansprechend hell und geräumig wirkende Atmosphäre des Ateliers mit seinem Oberlicht entgegen. Wohl eine meiner ersten Fragen betraf Max Frisch, dessen Porträt mir gegenüber an der Wand hing. Sautter und Frisch sind gleich alt, im Gymnasium besuchten sie Parallelklassen (auch die Farbreproduktion eines Porträts von Adolf Muschg, die mir Sautter zeigte, legt Zeugnis ab vom einfühlenden Können dieses Zürcher Künstlers). Denn man ist hier sehr in Zürich - wenngleich topographisch entfernt von der Stadt auf der lieblichen Anhöhe von Zumikon.
Ich habe mich oft gefragt, worin die Besonderheit dieses Künstlers, der auch Landschaftsmaler ist, eigentlich besteht. Sicher ist sie "traditionell", sie steht in der Tradition der europäischen Kunst und Bildnismalerei. Aber es kommt bei Sautter - abgesehen von seiner stupenden Beherrschung der Technik - noch einiges hinzu. Bekanntlich hat er als Fünfzehnjäriger bereits ein erstaunlich gekonntes Selbstbildnis gemalt, dem man die Amiet-Manier auf den ersten Blick ansieht. Cuno Amiet war ein naher Verwandter von Sautters Eltern; er hatte diese Eltern davon überzeugt, dass sie ihren Sohn Maler werden lassen sollten; der junge Walter Sautter hatte oft Ferien bei Amiet auf der Oschwand zugebracht und dort bereits Proben seines Talents abgelegt. Aber nun folgte auf diese erste Entscheidung die wichtige zweite: die Ablösung von Amiets Vorbild. Ernst Morgenthaler wurde der nächste, wichtigere Lehrmeister - Sautter, in unseren langen Werkstattgesprächen, erzählte mit Begeisterung von seiner Einführung in die Pariser Kunststätten und in die französische Malerei durch den bedeutend älteren Morgenthaler (der ebenfalls gute Porträts hinterlassen hat). Kein Wunder, dass in diesen Zusammenhängen der Name von Matisse fiel.
Wenn ich nun die Besonderheit von Sautters Malerei, insbesondere seiner Porträtkunst, zusammenzufassen versuche, fällt mir eine eigentümliche Mischung von Wirklichkeitssinn und Phantasie, von bürgerlichem Kulturbewusstsein und musischer Formgebung, von gestalterischer Wahrheitssuche (die wiederum ein wenig an Wilhelm Gimmis Bildnisse erinnert) und von durchaus persönlich empfundener Interpretation des Kopfes und Körpers seines Modells auf. Sautter widersteht jeder - für einen Porträtisten naheliegenden - Versuchung zum Karikieren, der zur gleichen Zeit in Zürich Varlin mit verschmitztem Vergnügen gern frönte. Wenn man versucht, dem Künstler durch eigenes Mitgehen seine Arbeit zu erleichtern, wozu auch die Teilnahme am Gespräch dient, entsteht eine Art Komplizität zwischen dem penetranten Auge des Künstlers und der Bemühung des Modells, ihm die Waage zu halten.
An dieser Stelle eines kurzen Vorwortes kann ich die - an sich wichtige - Frage des Spannungsverhältnisses zwischen der traditionellen Kunstrichtung und den Gestaltungen der modernen Malerei (deren Modernität so oft dem Wechsel unterworfen war) nicht auch noch beantworten. Ich wende mich nur gegen Versuche, im oft verworrenen
Neuigkeitsdrang der Tradition ihre Legitimität abzusprechen. Dazu eine bezeichnende Anekdote aus dem neueren Kunstleben in Paris. Balthus, der wenig älter als Sautter ist, hat konsequent, auf eine sehr persönliche Art, "gegenständlich" gemalt - weshalb er langezeit die Gunst der Pariser Kunstkritik verlor. Picasso aber erblickte in diesem
jüngeren Maler einen grossen Meister; er sagte es nicht nur, er zwang den Staat, ein Gemälde von Balthus in den Louvre aufzunehmen, indem er es diesem Museum schenkte. So souverän können manchmal (nicht immer!) bedeutende Künstler über einen anderen urteilen. Sautter hat kein Hehl aus seiner Bewunderung für Picasso gemacht, diesem jedoch Matisses Ausdruck, Licht, Form und Farbe vorgezogen. Es gibt überall zusammenhänge, man muss ihnen nur nachzuspüren trachten.
Es ist schade, dass mir der Platz fehlt, um mich auch zu Sautters Landschaften zu äussern. Man hat sie gelegentlich "lyrisch" genannt und wollte damit etwas über den sensiblen Natur-sinn des Künstlers aussagen. Ich würde lieber "seherisch" sagen, diese Landschaftsbilder zur Tag- und oft auch zur Nachtzeit sind Visionen von Wald, Wiese, See, Himmel und Erde. Das nur-Lyrische ist dem Verdacht des Sentiments, wenn nicht gar der Sentimentalität ausgesetzt. Das wäre eine Schwäche. Sautters Kunst aber ist nicht schwächlich, sie ist männlich.