Bemerkungen zum Motiv «Nacht»
Einer malt «Tag» noch in seinen Nachtbildern,
ein anderer «Nacht» selbst in Tagbildern. Das
Verhältnis aber zwischen Tag, Dämmerung,
Nacht ist nicht in jedem Falle leicht auszumachen;
gewiss ist nur, dass solch Schwerbestimmbares
das Geheimnis - und das will
sagen: die Qualität des Werks mit bedingt. Wer
sich darüber Gedanken macht, der ist bald
umgeben von Bildern. Bilder, die man traf und
die einen trafen, werden wach im Augengedächtnis
und verlangen Überprüfungen; an
ihrer Besonderheit soll sich das Fragen bewähren,
sollen sich Antworten erwahren.
Ich sehe, zum Beispiel, gemalt von
Caspar David Friedrich, die «Stadt am Wasser
bei untergehender Sonne», die «Seestadt im
Mondschein», die «Weiden im Mondschein»;
oder von Spitzweg die «Nächtliche Heimkehr»;
von Menzel das Bild «Blick auf den Anhalter
Bahnhof im Mondschein»; und Georg Friedrich
Kersting ist mir gegenwärtig mit «Lesender
beim Lampenlicht». Das alles scheint nah
zusammenzugehören. Dämmerung, Mondlicht,
Lampenlicht; Weltraum und Innenraum,
Unendlichkeit und Wohnlichkeit; Schauer,
Behagen, Geheimnis und Übersicht. Es gehört
zusammen in der selben Angst, die der eine
unter Gemütlichkeit verbirgt und die der
andere geradezu zeigt.
Diese Angst ist alt. Akut ist sie geworden
seit Kopernikus: seit die Erde aus der
Mitte des Alls auf eine Bahn im All verwiesen
und der Mensch den bergenden Erd-Kreis ins
Grenzenlose ausgeweitet weiss. In unserer
Zeit haben Astronauten den Erd-Kreis als ErdBall
«von aussen» im Raum beobachtet und
photographiert. Die Aufnahmen sind als
Poster zu haben. So wissen wir nicht nur, wo
die Erde in der grossen Ordnung ihren Platz
hat, wir verfügen nun auch über leicht zugängliches,
durch Reproduktion banal gewordenes
Anschauungsmaterial. Aber das Grenzenlose
ist uns unheimlich geblieben. Und die
Sinnenseele ist von jener Anbiederung ans All
nicht beeindruckt; dem gibt sie nicht nach; sie
erfährt weiterhin als etwas Wunderbares, wie
die Sonne aufsteigt, am Himmel wandert,
untergeht - in der Mitte des Alls die Erde, ich,
der Staunende. Das ist das ptolemäische
Schauspiel, das «alte Stück», wie Heine sagte:
«Mein Fräulein! sei'n Sie munter, Das ist ein
altes Stück; Hier vorne geht sie unter, Und
kehrt von hinten zurück.» Solch distanzschaff
end er Spott kommt aus der Spannung, der wir
ausgesetzt sind und ausgesetzt bleiben: die
Grenzenlosigkeit annehmen, tragenden
Grund behalten. Wir antworten darauf mit
Angst, offen und versteckt; wir möchten die
Spannung loswerden, das heisst: mit unserem
Wissen und unserem Erleben ins Reine kommen.
Es gibt dafür in der deutschen Literatur
ein Dokument von markantem Rang, sowohl
was die Auskunft als auch was den Zeitpunkt
und die Form der Auskunft betrifft: von
Barthold Heinrich Brockes das Gedicht
«Das Firmament» ( aus «Irdischen Vergnügen
in Gott», erschienen in den Jahren von 1721
bis 1748):
Als jüngst mein Auge sich in die saphime
Tiefe,
Die weder Grund noch Strand, noch Ziel,
noch End umschränkt,
Ins unerforschte Meer des hohlen Luft-Raums
senkt'
Und mein verschlungner Blick bald hie- bald
dahin liefe,
Doch immer tiefer sank - entsatzte sich mein
Geist,
Es schwindelte mein Aug, es stockte meine
Seele
Ob der unendlichen, unmässig-tiefen Höhle,
Die wol mit Recht ein Bild der Ewigkeiten
heisst,
So nur aus Gott allein, ohn End und Anfang,
stammen:
Es schlug des Abgrunds Raum, wie eine dicke
Flut
Des bodenlosen Meers auf sinkend Eisen tut,
In einem Augenblick auf meinen Geist
zusammen.
Die ungeheure Gruft des tiefen dunkeln Lichts,
Der lichten Dunkelheit, ohn Anfang, ohne
Schranken,
Verschlang sogar die Welt, begrub selbst die
Gedanken;
Mein ganzes Wesen ward ein Staub, ein Punkt,
ein Nichts,
Und ich verlor mich selbst. Dies schlug mich
plötzlich nieder;
Verzweiflung drohete der ganz verwirrten
Brust.
Allein, o heilsams Nichts! glückseliger Verlust!
Allgegenwärtger Gott, in Dir fand ich mich
wieder.
Der Blick in die «saphirne Tiefe», in die
«ungeheure Gruft des tiefen dunkeln Lichts»
mag einen Künstler zur Wahl des im genauen
Sinn entsprechenden Motives «Nacht» bestimmen;
Nacht, sehbar gemacht durch Licht,
durch Mondlicht und Lampenlicht; oder
Nacht als schwarze Tiefe im Tag; solche Nacht
als Gleichnisraum für die Angst aus der Spannung
zwischen Grenzenlosigkeit und begrenztem
tragendem Grund.
So beschäftigt bin ich Walter Sautters
Bildern begegnet. Ich wurde die Frage nach
der Bedeutung des Motives «Nacht», die mich
in anderen Zusammenhängen behelligte und
weiter beschäftigt, vor diesem neuen Gegenübernichtlos.
Sie prägte ein Vor-Urteil. Würde
es das Sehen und das Nachdenken zu brauchbarer
Einsicht leiten können, oder würde es
sich, gemessen an der Sache, als unbrauchbar
erweisen? Das ist zu prüfen.
Beim ersten Sichten der Bilder (Gemälde,
Zeichnung, Graphik) zeigt sich: dieser
Maler der «Lebensfreude» (wie er eher leichthin
genannt worden ist) hat sich oft und in
vielfältiger Abwandlung zum Motiv «Nacht»
entschlossen. Beim näheren Zusehn, aus
Umsicht und Vergleich, erweist es sich als ein
Schlüsselmotiv. Man kann, um in diesem Zusammenhang
vorwärts zu kommen, beim
Selbstporträt des Malers aus dem Jahre 1946
ansetzen:
Der Mann steht in einem Zimmer, das
ausgezeichnet ist durch ein paar Signale der
Wohnlichkeit: Lehnstuhl, Ofen, Möbelstück,
darauf ein Globus. Dies alles ist in die linke
Bildhälfte gerückt, gegen den Rand, und steht
unter einem Licht, das die Farben milde
macht, weder grell noch matt, warm. Ruhiger
Innenraum. Durch unauffällige Akzente in
der zeichnerischen und in der farbigen Ordnung
des Bildes wird unser Blick buchstäblich
unversehens im Raum geführt, vom wohnlichen
Teil zur rechten Bildhälfte hin: sie ist
bestimmt durch eine fast zimmerhohe Fenstertüre;
die Türflügel wie von aussen aufgestossen.
Von wem? Von der Nacht. Sie steht
in der Öffnung, das Unabsehbare beim Überschaubaren.
Wie von aussen aufgestossen. Ich
sage das und muss mich fragen, ob mir das
Bild darin recht gebe oder ob ich mich aus
seinem «Reden» gelöst habe zu blasser assoziativer
Willkür. In solchem Fragen wird spürbar,
wie kontrovers die Organisation des Bildes
ist, das sich so ruhig gibt. Das Kontroverse
wird Gestalt: im Manne, der den Bildraum
vom Vordergrund her beherrscht- obwohl er
in einem beirrenden Sinn nicht zu diesem
Raum zu gehören scheint. Dafür gibt es Zeichen:
der Mann hat den Hut auf, wie man ihn
trägt im Freien, unterwegs; er trägt Schuhe,
wie man sie für die Strasse braucht; er hält sich
wie einer, der auf dem Weg angerufen worden
ist, stutzt, hinschaut, sich aber dem Gegenüber
nicht bindend zuwendet. Er ist ein
Fremdling im Innenraum. Das Licht, das auf
ihn herabfällt, so steil, dass nur ein knapper
Schatten hinter dem Mann auf den Boden zu
liegen kommt - Lampenlicht, wie Sonnenlicht,
wie Mondlicht; Licht aus dem Innenraum,
wie Licht vom Unterwegs im Tag, vom
Unterwegs in der Nacht. Die Lichtquelle ist
nicht sichtbar; was sie erwirkt, wird gezeigt:
kontroverses Dasein in einem Innen-AussenRaum,
begrenzt-grenzenlos.
Bei inständig fragendem Umgang mit
Walter Sautters Arbeiten lernt man die Schatten
der augenfreundlichen Bildwelt lesen. Bei
vorläufigem Begegnen nimmt man sie zu
leicht - nichts von «saphirner Tiefe», nichts
von «ungeheurer Gruft des tiefen dunkeln
Lichts», eher Entsprechungen zu Claudius:
«Wie ist die Welt so stille Und in der Dämmrung
Hülle So traulich und so hold ... » Traulich
und hold; so mag der erste Eindruck sein. Er
täuscht. Diese Täuschung aber sagt Wesentliches
über den Maler. Sie wird zum Beleg für
das, was wir Rücksicht nennen - oder, weiter
gefasst: Lebenshöflichkeit. Walter Sautter
malt keine Schocks. Heftigkeit ist für ihn eine
Form der Indezenz, der Selbstüberschätzung.
Er verleugnet sich nicht in der Begegnung mit
Mensch, Landschaft, Sache, aber er drängt
sich dem Gegenüber auch nicht auf und gar
nicht attakiert er es. Seine Bildsprache ist auch
nichtbeschwörend;sieistunpathetisch-urban
in Zeichnung, Farbe, Lichtführung. Unpathetisch-
urban schafft einer nicht aus Ahnungslosigkeit
gegenüber dem Schwierigen, vielmehr
aus Einsicht ins Schwierige. Danach
jedem menschlichen, jedem sachlichen Verhältnis
das verantwortbare Helle abgewinnen
- es abgewinnen gegen den Anspruch des
Dunklen und es vor ihm bergen: dasist"VValter
Sautters Konsequenz. Sie gibt jenem Traulichen
und Holden das Gewicht erfahrener
Angst. Kaum habe ich das ausgesprochen, da
merke ich auch, dass ich es zu laut gesagt
habe - so diskret ist die Bildsprache Walter
Sautters, und so viel Diskretion verlangt sie
vom Betrachter.
Ich habe vor mir Walter Sautters Bilder
Mondnacht im Tessin, 1962, Schneeschmelze,
1968; ich frage mich, ob sie stützen, was ich
erfuhr und sagte im Hinblick auf das Selbstbildnis
des Malers.
Da sind die Lichtquellen sichtbar,
Mondlicht, Lampenlicht; antwortende Gegenlichter.
Das eine zeigt den grenzenlosen Raum
an, das andere den begrenzten, so, dass durch
die Berührung des einen und des andern das
Unheimliche gemildert und das Trauliche
ernst wird. In der Korrespondenz von Mondlicht
und Lampenlicht bekommt der Bildraum
seine Struktur; in dieser Korrespondenz wird
eine Weltgegend, die keinen Namen hat, zu
einem Lebensart mit Namen. Das Unvertraute
wird vertraut und behält doch einen
Anflug von Fremde. Keine einfach-gemütliche
Welt; das Dasein in ihr ist sinnendes
Dasein.
Immer wieder wird sinnendes Dasein
in Gestalt gefasst. Ich denke an das Bild Der
Besuch, 1955:
Eine Zimmerecke; in dieser Ecke die
dunkle Frau, auf der Wandbank sitzend, hinter
dem Tisch; den einen Unterarm hat sie vor
sich hingelegt, der andere, auf den Ellbogen
gestützt, ist gerade aufgerichtet, oben, hell, die
Hand im Gelenk über den Handrücken abgewinkelt - ein Korrelat zum Antlitz, erhöht daneben,
das leicht zur Seite geneigt ist; Hand
und Antlitz in fast paralleler Neigung, und in
diesem «fast» ist die Spannung vorgebildet, die
im Sinnen der Frau, in ihrem Schweigen wirkt
und ihre Augen beherrscht. Was sinnt sie? Das
scheint eine bildfremde Frage zu sein (Zeugnis
für ein psychologisierendes Verhältnis zur
Sache). Doch das Bild selber fragt so und gibt,
als Bild, die Antwort. Es zeigt die Antwort:
Sinnen zwischen Licht und Nacht. Die Lampe
gibt den milden warmen Schein; im Fenster,
gegenüber, steht die Nacht -wie sie im Selbstbildnis
des Malers in der Türöffnung steht; der
Vorhang, nur halb gezogen, sammelt Licht, so
dass das Dunkel draussen noch stärker wird.
Die Blumen auf dem Sims geben dazu den
Akzent; sie sind Reste der Geborgenheit am
Rand zur Leere. Auf dem Tisch, in der Tischdecke,
spielen Ocker und Eisgrün ineinander,
Wärme und Kühle; sie kommen aus demBildganzen,
in welchem die Farben in ausgewogenen
Rhythmen das Wohlsein stiften, von
dem ich nun weiss, dass es die Angst kennt -
dass es kein Luxus ist. Die sorgfältige zeichnerische
Organisation des Bildes, der Bilder
Walter Sautters überhaupt, die Halt gebende,
Halt betonende Geometrie im Wohlleben der
Farben gehört mit zu den Gesten gegen jene
Angst.
Vom Maler, bezogen auf das Selbstbildnis
aus dem Jahre 1946, sagte ich, er sei ein
Fremdling im Innenraum. Eben so fremd ist
die Frau an ihrem Ort im Bilde Der Besuch. Sie
sinne zwischen Licht und Nacht- sie sinnt inmitten
der wohnlichen Dinge über die Fremde
nach, die wir zu bestehen haben, öfter und
schwieriger als die Generationen vor uns,
denn die zivilisatorischen Verstellungen schirmen
uns nicht ab gegen die «saphirne Tiefe»;
im Gegenteil: oft ist es, als wolle sich die Tiefe
an uns rächen, weil wir sie missachten.
Werner Weber